Buchbesprechung: Die Freie Waldorfschule als Mysterienstätte?
Ein ungewöhnliches Buch, entstanden 2019 anlässlich der 100-Jahre-Waldorf-Feiern. Sieben innere Widersprüche im Selbstverständnis der Waldorfschulen werden enthüllt. Dabei zeigen sich diese Paradoxien als notwendige, von Rudolf Steiner konzeptionell inszenierte Grenzerfahrungen. Der Verfasser versucht zu beschreiben, wie diese Erfahrungen, richtig aufgefasst, der Freien Waldorfschule Rudolf Steiners den Weg in die Zukunft nicht versperren, sondern erst eröffnen. Es ist zugleich ein Besinnungsbuch für jeden Waldorflehrer, der den ureigenen Bezug auf Rudolf Steiners Gründungstat nicht vergessen, sondern aktivieren will.
Man kann anscheinend das 100jährige Jubiläum der Freien Waldorfschulen auch einmal ganz anders betrachten. Das Buch des aus der Schule Sigurd Böhms stammenden Waldorflehrers Rüdiger Blankertz will darauf aufmerksam machen, dass die inneren Widersprüche, die der Freien Waldorfschule durch ihre Fundamentierung in der Anthroposophie Rudolf Steiners anhaften, nicht geleugnet werden müssen. Blankertz stellt diese Widersprüche als notwendige pädagogisch wirksame Paradoxien dar, die, werden sie als Grenzgedanken aufgefasst, etwas sonst Ungedachtes und Ungesagtes zu Bewusstsein bringen können. Es entsteht damit eine Fülle von Rätseln, die im Grunde jeder an der Waldorfschule Beteiligte durchlebt, die man aber in ihrer pädagogischen Dimension oft völlig verkennt, ja als verstörend erlebt, und sie deshalb verdecken oder verleugnen will.
In den neun Kapiteln werden einige dieser Paradoxien auf ihren Gehalt untersucht. Man kann sagen, dass Blankertz etwas Unmögliches versucht. Er will zeigen, dass in der vollen Öffentlichkeit einer staatlich genehmigten Ersatzschule die wahre Esoterik der Erziehungskunst Rudolf Steiners leben kann, wenn das Lehrerbewusstsein die schon in der Konzeption der Freien Waldorfschule liegenden inneren Grenzerfahrungen nicht ablehnt, sondern sich ihnen kraftvoll zuwendet. Die Lektüre erweist sich als höchst spannend, sobald man bereit ist, den Gedankengang der einzelnen Kapitel mitzugehen.
In den ersten drei Kapiteln werden drei Paradoxien – eine politische, eine bewusstseinspädagogische und eine soziale – aufgezeigt. Diese treten aus der Sichtweise des Verfassers ins Bewusstsein, wenn man die Freie Waldorfschule mit ihrem anthroposophischen Ursprungsimpuls in eine gedanklich konsistente Verbindung bringt. Im vierten Kapitel (‹Weltmacht Kind›) werden diese drei Paradoxien auf das Grundparadoxon der heutigen Inkarnationssituation zurückgeführt. Die Kapitel fünf bis sieben versuchen, die in ihrer Dimension erkannten äußeren Paradoxien jeweils als den der Freien Waldorfschule Rudolf Steiners in die Wiege gelegten innersten Initiationsimpuls aufscheinen zu lassen. Die drei äußeren Paradoxien sind nach dem Verfasser:
1. Das politische Paradox: Will die Freie Waldorfschule Waldorfpädagogik verwirklichen und damit ihre ureigene Existenzberechtigung bewahren, muss sie sich auf Rudolf Steiner beziehen. Wenn sie sich aber auf Rudolf Steiner bezieht, wird ihr die Existenzberechtigung öffentlich abgesprochen und auch tatsächlich fraglich. Letzteres, weil die Waldorfschulen die Elternarbeit nicht konsequent als sozialpädagogische Aufgabe ergreifen. Was wiederum seinen Grund darin hat, dass die Lehrer die Anthroposophie Rudolf Steiners nicht so weit durchdringen, dass sie die Ergebnisse – geschweige denn die anthroposophische Methode – mit innerer Sicherheit vertreten können. Die Ausweichbewegungen, mit denen diese Paradoxie umgangen werden soll, ergeben das Bild einer fortschreitenden Entwichtigung bis zur Negierung Rudolf Steiners und der anthroposophischen Grundlagen der Waldorfschul-Pädagogik. Diese wird einfach medienkonform als spezielle Reformpädagogik definiert.
2. Das Lehrer-Paradox: Die Menschenkunde Rudolf Steiners stellt in ihrer anthroposophischen Durchführung eine totale Überforderung der Lehrer dar. Aber nur mit einer durchdringenden Menschenerkenntnis kann der Lehrer gegenüber den Kindern und Jugendlichen die ihm von Rudolf Steiner gestellte Aufgabe überhaupt angehen. Der Zugang zur Anthroposophie wiederum ist von Rudolf Steiner ausdrücklich und mit Fleiß schwierig gemacht worden. An diesen Schwierigkeiten scheitern die Lehrer, ohne dass sie sich der pädagogischen Dimension dieses Scheiterns bewusst werden. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass die gewöhnliche kulturelle Sozialisation des einzelnen Lehrers weiter wirkt, und die Umgestaltung der eigenen Bewusstseins-Verfassung in dem möglichen Sich-Begegnen mit Anthroposophie nicht ernsthaft genug angestrebt wird. Was wiederum auch mit der akademisch missverstandenen Lehrerbildung bei Waldorfs zu tun hat – und mit dem Versagen der Waldorfschulen selbst, aus der ja viele Lehreraspiranten kommen.
3. Das Eltern-Paradox: Die Eltern geben ihre Kinder an die Freie Waldorfschule, weil sie sich davon etwas Gutes erhoffen. Was das Gute ist, darüber haben die Eltern meist andere Vorstellungen als die Lehrer. Die Lehrer wiederum haben (hoffentlich!) die innere Aufweckung der Kinder für ihre Inkarnationsaufgabe im Fokus. Letztere hängt wiederum mit der aktuellen Menschheitssituation zusammen. Von derselben wahrheitsgemäß zu sprechen, fällt dem Lehrer schwer. Er verirrt sich in die Zwangslage, seine Ziele gemäß den Erwartungen der Eltern darzustellen. So entsteht die paradoxe Situation, dass es die Eltern in Bezug auf ihre Entscheidung für die Waldorfschule stark verunsichern würde, wenn der Lehrer die Wahrheit über die Bedürfnisse der Kinderseelen aussprechen würde. Also lässt man diese Wahrheit ungesagt, genauer: Man vergisst sie einfach. Die Ausweichbewegungen der Waldorf-Verantwortlichen ergeben so das Bild des Verrats am eigentlichen Bildungsauftrag Rudolf Steiners.
Das Grundparadox sieht der Verfasser in dem gegenwärtigen Verhältnis von Kindern und Kindheit. Hinter all dem, was wir als bedrückende Niedergangserscheinungen unserer Zeit zu erfahren und zu durchleben haben, wirkt, so Rudolf Steiner, die Kindheit (im Buch die ‹Weltmacht Kind› genannt). «Ihre Impulse sind darauf gerichtet, ein neues Verhältnis zur Welt, und vor allem zur geistigen Welt, unter die Menschen zu tragen. Der Impuls für ein neues Denken will Platz greifen. Mit den alten Denkgewohnheiten hat sich die Menschheit in ihren Untergang gesteuert, deren letzter Akt sich jetzt vollzieht. Wir stehen am Grabe aller Zivilisation. Das Todesurteil ist gefällt. Vollstrecker sind die Erwachsenen, das heißt die ehemaligen Kinder. In ihnen leben die Impulse der Kindheit unbewusst fort. Sie können aber von dem alten Denken nicht verstanden oder ergriffen werden. Der allgemeine Irrsinn, der die Menschheit ergriffen hat, kommt aus der Unterdrückung dieser Impulse. Überall kann man sehen, wie sie heraufwollen ins Bewusstsein, und überall fehlt die Möglichkeit, zu verstehen, was heraufwill.» (S. 77) Das Kind, wie der Erwachsene es sieht, erscheint ihm als Träger seiner unzeitgemäßen, aber ihm selbstverständlichen Ambitionen und Hoffnungen. Dadurch bleiben die unbewussten Impulse der neuen Generationen unverstanden, ja, man handelt ihnen de facto zuwider. Man hat keine oder keine genügend klare Vorstellung davon, was die aufbauenden Kräfte in den Kinderseelen sind, und wie sie entfaltet werden können. Das gewöhnliche Bewusstsein weigert sich, das Grundparadoxon des Kindes überhaupt an sich heranzulassen. Und das Bild, welches sich aus den Ausweichbewegungen der Erwachsenen ergibt, ist erschreckend: Weil die Erwachsenen ihre eigene Schulpflicht – die Pflicht, die Tatsachen-Schule des Lebens zu suchen – verweigern, verweigern die Kinder die Annahme ihrer Bildungsangebote. Die auftretenden Verfallserscheinungen sind ubiquitär zu konstatieren und werden ja auch vielfachst beschrieben.
Die weiteren Schritte des Verfassers (V: ‹Die Waldorfschule und die Welt von heute›; VI: Von der Erziehungskunst Rudolf Steiners; VII. ‹Die Freie Schule des Menschen…›) enthalten ungewöhnliche Aussagen über das, was seiner Auffassung nach Rudolf Steiner mit der Freien Waldorfschule für die Kinder, die Lehrer, die Eltern und die Öffentlichkeit eigentlich gewollt hat.
Nach dieser Besprechung wird man sich vielleicht fragen: Haben wir es hier mit einem radikal-anthroposophischen Fundamentalismus zu tun? Nun, dieser Eindruck kann dann entstehen, wenn man die in diesem Buch aufgeschlüsselten Paradoxien bloß als unerträgliche Widersprüche empfindet. Die gewöhnliche Alternative: Fortschrittlichkeit vs. Fundamentalismus existiert aber für den Verfasser nicht. Denn beide sind ihm nur zwei Seiten einer grassierenden Realitätsverweigerung. Die Realität sieht er in der Aussage Rudolf Steiners angedeutet: «Das Leben der Welt muss in seinen Fundamenten neu gegründet werden. Ich habe niemals etwas anderes im Unterbewusstsein der jungen Menschen eingeschrieben gesehen. Das ist es wirklich: Die Welt muss aus dem Fundament neu begründet werden.» Das hat mit Fundamentalismus nichts zu tun. Was als Fundament zu erkennen aufgegeben ist, liegt verborgen in den verkannten Seelen der Kinder und Jugendlichen. Aber um es dort entschlüsseln zu können, braucht es wiederum die Anthroposophie Rudolf Steiners. Dies als fundamentale Einsicht zu realisieren, wäre der wahre Ausgangspunkt einer möglichen Zukunft der Waldorfschule Rudolf Steiners. Doch das darf nicht phrasenhaft aufgefasst werden, sondern das Problem muss an der Wurzel gepackt werden. Wie – das kann am Buch zu einer Erfahrung werden.
Rüdiger Blankertz : Das ‹Erfolgsmodell› Waldorfschule und ‹das Problem› Rudolf Steiner . 100 Jahre Waldorf – Wer feiert da eigentlich Wen für Was?
Edition Nadelöhr, Aarau 2019. 160 Seiten; Broschur, Fadenheftung. ISBN 978-3-9525080-1-5, EUR 14.80, CHF 16.20. Erhältlich im Buchhandel oder direkt beim Verlag, http://www.agora-magazin.ch/nadeloehr.
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