Zu Karl Ballmers «Pastoren als Verleumder»

Diesem Text – der ersten anthroposophischen Feuertaufe Ballmers – war es beschieden, auch zum Wendepunkt seines Lebens zu werden. Er erschien am 14. August 1920 im «Tagblatt für das Birseck» und löste gleich heftige Reaktionen aus, bezeichnenderweise nicht nur von Seiten der betroffenen Pfarrherren, sondern auch der Anthroposophen. In Anbetracht der Tatsache, dass sich der Fall wohl als erstes Zeugnis der absoluten Inkompatibilität Ballmers mit der Anthroposophischen Gesellschaft betrachten lässt, hat es Sinn, ihn in Kürze wiederzugeben.

Da Anfeindungen gegen die Anthroposophie und persönlich gegen Rudolf Steiner immer öfter vorkamen – seit 1920 zogen sie sich besonders im Raum um Dornach zusammen, und zwar von beiden, sowohl der katholischen als auch der reformierten Seite –, war es nur folgerichtig, den Abwehrkampf gegen die Verleumder zu koordinieren, hatte es doch Sinn, Steiner selbst von der Notwendigkeit zu befreien, sich darum kümmern zu müssen. Ballmers Notwehr-Artikel – seltsam wäre es, wenn dem nicht so wäre –, war ein Alleingang aus Eigeninitiative, dazu noch im Duktus einer so außergewöhnlichen Unhöflichkeit und Rücksichtslosigkeit des Tons, dass es den guten Anthroposophen Schweizer Schlages völlig den Atem verschlug und ihnen nichts anderes übrigblieb, als in Stupor zu verfallen. Danach verwandelte sich der Stupor in Freude und Zustimmung, ausgelöst durch die Äußerung Rudolf Steiners: «Gegen die hohe Qualität des Artikels habe ich nichts einzuwenden.»

Der Skandal brach aus, nachdem ein ungestümer Anthroposoph, dem Ballmers Resolutheit bis ins Knochenmark vorgedrungen war, einem der Verleumder zufällig auf der Straße begegnet war und ihn angepöbelt hatte. Die Freude und Zustimmung schlug augenblicklich in Gegenteil um, und die entsetzten Mitglieder versammelten sich wieder, um sich diesmal nicht nur von Ballmers Artikel zu distanzieren, sondern auch von ihm eine Erklärung für den Anzeigenteil desselben Tagblattes zu verlangen, wonach sein Artikel seine private, keineswegs aber eine offiziell anthroposophische Initiative gewesen sei. Ballmer, der bei dieser Versammlung zugegen war, meldete sich zu Wort und sagte: «Ich sehe eigentlich nicht ein, dass die beiden Angelegenheiten [die spontane Pöbelei des jähzornigen Mannes und die Distanzierung von seinem Artikel] in einer Erklärung zusammengepackt werden sollten. Wenn man sie aber zusammenkoppeln will, dann bitte ich mir die Ehre aus, an erster und nicht an zweiter Stelle genannt zu werden.» Die Erklärung wurde nicht gedruckt.

Daraufhin folgten Strafverfahren wegen Ehrverletzung, eingereicht von den Pfarrern Arnet und Kully beim Bezirksgericht Arlesheim. Ballmer wurde verurteilt und musste die Gerichts- und Anwaltskosten für die beiden Fälle entrichten (Arnet Fr. 429.80, Kully Fr. 436.30, total Fr. 866.10!) – eine Summe, die, weil er dazu nicht in der Lage war, von einem Freund für ihn bezahlt wurde. Ihm blieb nur, dem Gericht keine Kompetenz in dieser Angelegenheit zuzugestehen.

Der Arlesheimer Gerichtskanzlei gesellte sich von der anderen Seite auch die Dornacher Anthroposophenschaft zu. Auf einmal stellte sich heraus, dass vom weiteren Verbleib Ballmers in Dornach keine Rede sein konnte. In der höflichen bis friedhöflichen Atmosphäre der Gesellschaft, die sich übermäßig darum kümmerte, ihre Schmutzwäsche nicht in aller Öffentlichkeit zu waschen, ließ sich kaum für einen Alleinsler Platz finden, dessen Lebensduktus es war, in Steiners «Philosophie der Freiheit» nicht nur zu schmökern, sondern sie zunächst und zuvörderst zu leben. Im Artikel «Pastoren als Verleumder», der sich wie eine Art Stimmgabel des künftigen Ballmerschen Stils lesen lässt, findet sich kein einziges Wort, das dem Dämon der Korrektheit auch nur den geringsten Tribut gezollt und nicht absolut im Element der Wahrheit gelebt hätte. Ein Fremdkörper, Fremdgeist, Fremdling schlechthin nicht nur unter Anthroposophen, die sich Anthroposophen nennen, sondern auch unter Nicht-Anthroposophen, die sich auch Anthroposophen nennen, musste er zum Geächteten und Verbannten werden, zunächst (durch das Kunstmaler-Visier maskiert) einem wenig erkennbaren, dann aber einem ganz auf- und augenfälligen, dessen Leben sich, nach der Heimkehr («Emigration», wird er sagen) in die Schweiz, wo er sich selbst freiwillig zu Ansiedlung eines Hinterm-Mond-Lebenden ein Örtchen namens Lamone ausersah, kaum von dem eines Toten unterscheiden ließ. «Ich bin nichtexistent», sagte er einmal kurz vor seinem Tod zu seinem treuen Freund Hans Gessner.

Uns anderen aber, die wir heute diesen vor mehr als hundert Jahren geschriebenen Artikel lesen, packt ein sonderbares Gefühl. Zumal vor dem Hintergrund der zunehmenden Nichtrelevanz, wenn nicht gar Nichtexistenz der anthroposophischen Bewegung. Wir, die anderen, murren oder brüllen angesichts dieses unvorstellbaren und lawinenartig steigenden Unfugs, den die Legion offiziell wie familiär anthroposophischer Papparazzi, Reporter, Talker, Stalker, Rapper, Rocker, Joker, Jogger, Blogger treibt, die publik zum Mord an Putin aufrufen oder sich weigern, von Rudolf Steiner etwas hören zu wollen, wenn er sich nicht als kompatibel mit etwa Michael Jackson oder «Nous sommes Charlie» erweist. Auf einmal aber sucht uns das heitere Gefühl heim, dass Rudolf Steiner vor etwas mehr als hundert Jahren diesen Artikel Ballmers gelesen hat.

Karen Swassjan
Basel, den 12. September 2023

 Der Artikel Karl Ballmers ist in der Agora 5-23 veröffentlicht.