Was Anthroposophen glauben, wozu sie berufen sind … könnte die Ursache ihres Scheiterns sein.

Liebe Leserinnen und Leser,
um radikal genug zu sein, muss bis zur Wurzel (lat.: radix) vorgedrungen werden. Von Revolutionären ist bekannt, dass sie so lange gut sind, wie sie sich in der Opposition befinden. Sobald sie an die Macht kommen, beginnen sie in irgend einer Form schlimm oder noch schlimmer zu werden. Das zeigt: ein Problem wurde zwar empfunden, aber nicht bis zu den Wurzeln mit Bewusstsein durchdrungen und geklärt. Man war tatsächlich noch zu wenig radikal – im Denken. Radikales Handeln ersetzt gern die Notwendigkeit radikalen Denkens, und ist, weil es zu kurz greift, zum früheren oder späteren Scheitern verurteilt. Wenn eine soziale Massnahme nicht radikal genug gedacht ist, vermehrt sie die alten Fehler um einen weiteren. Ausgedachte soziale Massnahmen sind Symptombekämpfung, Illusionen, Zeitgewinn. Sie entpuppen sich als zerstörerisch, führen zu Kulturkrankheit und Kulturtod – wovon wir inzwischen mehr und mehr Zeugen werden. Bisher ist nur Einer bekannt, der das Soziale bis zu den Wurzeln durchdacht und dadurch auf eine neue Ebene – aus dem abstrakt systemischen ins menschlich Organische – gehoben hat, und das ist Rudolf Steiner. Wer hier klagt, Steiner spreche in seinen Kernpunkten der sozialen Frage von den Proletariern, und die gebe es heute ja nicht mehr, der wird das im Wesentlichen zu den Proletariern Gesagte bei den 68er Studenten und heute bei der grünen Klimajugend finden können.

Die Wissenschaft des Sozialen wurde von Rudolf Steiner befreit aus der ungenügenden Fassung, die noch Anleihe bei den Geistern der Form nimmt. Dieses alte Paradigma der Form oder der Naturgesetzlichkeit angewandt auf das Soziale brachte ein spekulatives Systemdenken hervor, welches dem Heizungssystem unserer Wohnhäuser abgekupfert und auf psychische Vorgänge und soziale
Einrichtungen übertragen wurde. Steiner hat die Notwendigkeit für die Sozialwissenschaft erkannt, ihre Impulse aus dem Reich der Geister der Bewegung – oder mit Goethes anschauender Urteilskraft – zu gewinnen. Im Grunde bedarf es in erster Linie des gesunden Menschenverstandes: Beobachten und Denken. Nur: nicht angewandt auf Grobsinnliches, sondern auf das Soziale. Dazu muss sich eine neue Wissenschaft zum Erkennen des Organischen – und des Individuellen (!), denn ein jeder Organismus bestimmt sich aus sich selbst heraus – aufschwingen, will die Menschheit eine menschliche und nicht eine bloß allgemeine, durchnummerierte, maschinelle Zukunft finden. Von dieser notwendigen neuen Wissenschaft, die im Buch «Grundlinien einer Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung» von Grund auf entwickelt wird, spricht Rudolf Steiner u.a. auch in einem Vortrag in Dornach (GA 194, 15. Dezember 1919): «… fühlen Sie ebenso in der Naturwissenschaft, in dem Naturgesetze, «Gesetz», das Juristische noch drinnen! Denn der ganze Ausdruck «Naturgesetz» hat zum Beispiel der Goetheschen Naturwissenschaft (1) gegenüber, die nur mit dem Urphänomen, mit der Urtatsache arbeitet, keinen Sinn.» – Keinen Sinn!

Im Mai hat ein mutiger Artikel von sich reden gemacht, der in der Zeitschrift «Gegenwart» und im «Nachrichtenblatt» parallel erschienen ist. Er handelt vom Jesuitismus in den Führungsgremien der anthroposophischen Gesellschaft und legt einiges Konkrete offen von deren gegenwärtigem Zustand. Frieder Sprich schreibt in diesem Artikel ein Stück selbsterlebter Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft.
Die Beiträge von K. Swassjan und R. Blankertz in diesem Heft zeigen auf, wie das Versagen der Anthroposophen‐sein‐Möchtenden von Beginn an, schon zu Rudolf Steiners Lebzeiten, einsetzte, so dass es keine Verwunderung auslösen muss, wenn auch heute die Anthroposophische Gesellschaft und deren «Meinungsführer» («Eliten») unter diesem tragischen Zeichen stehen. Ja, Swassjan spricht in seinem Beitrag sogar die Dynamik an,  nach welcher dieses Versagen sich immer tiefer und tiefer bohrt. Somit kann es sich heute, in der von Sprich geschilderten, nur um eine besondere, die aktuelle Spielart dieses Versagens handeln.

Frieder Sprich zeigt akute Missstände bei der anthroposophischen Gesellschaft auf, hat sie mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib erlebt, und viele ahnungslose, gutgläubige Mitglieder, die seinen Artikel lasen, mögen sich die Augen gerieben haben. Dabei lässt er seine große Treue zu Rudolf Steiner bemerken und jahrelange, ernste Studienarbeit. Eine bestimmte Voraussetzung aber ist ihm entgangen: Sprich: «Wird die Übung eingestellt, so stirbt die Kunst ab. Und auch das Handeln, wenn es nicht aus reiner Willkür erfolgt und auf reine Machtvollkommenheit aufgebaut ist, erfordert Übung. Ein freies Handeln ist nur möglich, wenn es auf moralische Intuition, moralische Phantasie und moralische Technik aufgebaut wird.»
Ja, das war (bzw. ist) Rudolf Steiners eigenstes Lebenselement. Allerdings hat er keine Gebäude aus moralischen Zutaten errichtet, sondern seine Phantasie, ja sein ganzes Wesen war (bzw. ist) Moral. Er ist der GANZE MENSCH – in allen neun im Buch «Theosophie» unterschiedenen Wesensgliedern, vom physischen Leib bis zum Geistesmenschen, die sich vom alten Saturn bis zum
Vulkan allmählich entwickeln, ist er bereits vollständig da, während wir es erst werden. Kurz und gut: Wir werden, was er ist. Wie weit unser Können im Erdenzeitalter der Bewusstseinsseele aber noch von Rudolf Steiner entfernt ist, davon hat sich heute noch praktisch kein Bewusstsein unter den Anthroposophen breit gemacht. Man glaubt, man könne es durch Üben erwerben wie etwa beim Klavierspiel. Klar, dass wir alle schon selber Freiheit üben, moralisch phantasieren wollen. Doch nebst allem eifrigen Üben und Bauen ist noch etwas anderes nötig. Ein wahrhaftiges Streben nach Anthroposophie, nach dem grundstürzend Neuen, bringt  Überraschungen, völlig Unerwartetes (Prüfungen) mit sich. Etwa die unserer persönlichen Gesundschrumpfung: auszuhalten, das angestammte Selbst immer kleiner und nichtiger werden zu sehen, bis dieses einstmals so wichtige, vom Üben aufgeblähte «Selbst» bei Null angelangt ist und – zu großen Augen wird: Unser Freiheits‐Können von heute besteht vor allem Anderen darin, dass wir zu diesem oder jenem bestimmten Buch greifen und Rudolf Steiner studieren, um an ihm erst als das, was wir vielleicht einst können werden, in den allerersten Anfängen zu entstehen.
Der neue Wein ist schon da. Aber er verdirbt in den alten Schläuchen. Darin besteht unsere Arbeit, dass wir auch die Schläuche neu werden lassen am neuen Wein.

Sprich: «Handeln aus Freiheit und Handeln aus Macht stehen in einem konträren Verhältnis. Und es ist gar nicht anders möglich, als dass eine Gesellschaft, die nicht in ihrem innersten Zentrum Organe ausbildet, in denen einerseits das Erkennen, und sei es in seinen einfachsten, elementarischen Formen, geübt und nach und nach in alle Lebensfelder hinausgetragen wird, und andererseits auch ein Handeln nach den Gesetzen der Freiheit geübt wird, notwendig zu einer Machtgesellschaft degenerieren muss. Wenn wir uns diesen Gesichtspunkt zu eigen machen, dann können wir geradezu exemplarisch beobachten, dass genau im  Todesmomente von Rudolf Steiner unsere Gesellschaft von einer menschheitlich orientierten Erkenntnisgesellschaft zu einer gruppenegoistisch motivierten Machtgesellschaft zerfallen ist.»

Hier macht sich dieselbe Voraussetzung geltend. Implizit wird angenommen, dass eine Gesellschaft das können sollte, was gefordert ist: Wir (ein mysteriöses inneres Zentrum) sollen bereits (gemeint ist: selber) Erkennen üben können im Sinne der Geisteswissenschaft und wir sollen schon (selber) freies Handeln üben im Sinne Rudolf Steiners … Um nicht einen wortklauberischen Eindruck zu machen, kann dieses bescheidene Übenwollen großzügig gedeutet werden: natürlich könnte jeder geistig wachsen in einer ordentlich organisierten anthroposophischen Gesellschaft – aber … nicht zu einem Orchester organisiert, das seine (missratenen) Freiübungen zum eigenen Unglück und zur Blamage Steiners in die Welt hinaus kakophoniert und sich von schmarotzenden Akademikern, modernen Künstlern, grünen Politikern, promisken Journalisten und von Praktikern des grenzenlosen Wirtschaftswachstums eines Besseren, etwa eines «Zeitgemässen», Erfolgreichen usw. belehren und vor allen Dingen bekehren lässt. Wachsen liesse sich eben geistig an einem handfesten, wohlorganisierten Studium der Grundlagen von Rudolf Steiners Geisteswissenschaft. Freiheitsstreben hingegen als intimste individuelle Angelegenheit und Verantwortung kann nicht von Unfreien vergesellschaftet (organisiert) werden. Jeder Versuch müsste misslingen, würde geistig Hochmütige, Hochstapler hervorbringen. Das Freiheitsstreben von Schwachen würde erstickt, Starke aber vertrieben. Denn wer sich nicht ersticken (organisieren, institutionalisie‐
ren) lässt, geht lieber mit Steiner in die Diaspora als ohne ihn in einer solchen Gesellschaft die Anthroposophie in die Bedeutungslosigkeit treiben zu helfen. Nur eine reife Gesellschaft hätte zur Einsicht gelangen können oder könnte zur Einsicht gelangen, wie weit sie innerlich von Steiner entfernt ist, und aus dem notwendigen Erschrecken die Konsequenz ziehen, dass sie, wenn sie überhaupt Gesellschaft bleiben will, eine Lerngesellschaft werden muss. Als der Lehrer noch unter ihnen weilte,
waren sie das, und wäre es auch nolens volens gewesen. Statt es zu bleiben, glaubten sie, nun selber als Lehrer wirken zu können und zu sollen. Bis heute. Nur aus einem solchen Glauben erklärt sich das angenommene «innerste Zentrum» einer Gesellschaft, das irgendwelche Organe ausbilden kann. Solches organbildende Können ist jedoch den Geistern der Bewegung vorbehalten. Und wer ist der Beweger der anthroposophischen Bewegung? Ich möchte nicht vorgreifen.

Eine andere Voraussetzung Frieder Sprichs streckt ihre Fühler vor anläßlich der für den Kontext völlig unnötigen Erwähnung von Wilhelm Schmundt. Wilhelm Schmundt (1898–1992) war Ingenieur, widmete sich Rudolf Steiners Sozialwissenschaft und dem Goetheanismus und wurde später auch Waldorflehrer. Bekannter wurde er eventuell durch Joseph Beuys, der ihn 1973 im Achberger Kreis kennenlernte und zu seinem Lehrer erkor. Sprich hält Schmundt für einen der größten Platoniker des 20. Jahrhunderts. (Meine Phantasie ergänzt: vom Rang eines Nietzsche, Schelling, Hegel …) Was für eine zweifelhafte Ehre jedoch könnte es sein, ab dem 20. Jahrhundert, und besonders für einen Anthroposophen, als Platoniker zu sterben? Um aus diesem Labyrinth herauszufinden, bedarf es eines Fadens, den der Artikel von T. Degen an die Hand gibt.

Ja, und die Genesis der Eliten? Sie ist ganz einfach und setzt mit der Buchdruckerkunst ein: Am Anfang war (nämlich) ein Druckfehler. Ein neues Wort ward geboren, zufällig, dessen Sinn und Inhalt keiner kannte, das aber göttlich klang: Eli – E‐li‐ten. Ein Numinosum. Es funktionierte damals schon ganz wie heute mit der modernen Kunst und Wissenschaft: Je weniger die Leute etwas verstehen, desto höher glauben sie, müsse der Sinn sein, der sich dahinter verbirgt. Die mit diesem Prädikat Ausgezeichneten gaben sich fortan alle Mühe, der Ehre gerecht zu werden. Erst feierten sie einen würdigen Aufstieg, aber dann begann die Stunde der Wahrheit zu schlagen, der Schein verblasste, und das Wort, das sich längst eingebürgert hat, offenbart nun seines Pudels Kern. Es bezeichnet im Wesentlichen doch nur das, was es ursprünglich, ohne Druckfehler, bedeutete: Die Eitlen.

«Ein sicheres Mittel zur Beförderung der Verträglichkeit unter Anthroposophen», schreibt Karl Ballmer in einem
Brief an Gerhard Kienle (22.2.1953), ist «die Erkenntnis unserer gemeinsamen Nullität vor Rudolf Steiner». Implizit und radikal: An dem Bewusstsein unserer gemeinsamen Nullität vor Rudolf Steiner vorbei bauend kann sich nichts als Versagen über Versagen türmen. «In Christo morimur» – der mittlere Teil der Grundsteinmeditation – besagt heute praktisch: Wir sind vor die Wahl gestellt, uns in jedem Lebensaugenblick entweder im Getriebe, den Animositäten und Ambitionen der Welt zu verirren und zu verlieren, oder: in Rudolf Steiners Bewusstsein hinein zu sterben. Das Alte zu entwerden, um das Neue zu werden. In dem Ausmaß, wie es uns gelingt, arbeiten die Hierarchien in uns, «bauen» an den künftigen neuen Schläuchen.

Iris‐Astrid Seiler
Aarau im Juli 2022

 

P.S.: Nachdem mein Artikel «Rätsel in der Biographie …» schon fertig war, bemerkte ich die rein zufällige Koinzidenz des Kleber‐Motivs bei der Auslassung über das Papsttum mit dem Artikel «Die letzte Generation» in diesem Heft (S. 41 bzw. 48f.). Mir schwebte daraufhin folgendes vor: Der katholische Kleber, der für den Heiligen Stuhl verwendet worden war, steht seither der übrigen Menschheit zur freien Verfügung, physisch etwa unter der Marke Uhu, mit der u.a. auch Hände an Straßen und Kunstwerke geklebt werden wie bei der «letzten Generation», geistig aber als Gedankenkraft, als verbindliches Denken. In der heidnischen Weisheit beschützt der Uhu die Unterwelt und den Tod, ist Herr über die Seelen. Als Schwellenhüter sozusagen beschützt er die geistige Welt vor dem materialistischen Unfug. Abprallend von dem katholischen Kleber, der eine jahrhundertelang unzertrennliche Verbindung von Papst und Stuhl gewährleistete, möchten wir die angesprochene «letzte Generation» zur Rettung der Welt durch ein Attribut empfehlen, auf das sie ohne Anthroposophie nicht kommen kann, nämlich: die letzte heidnisch‐buddhistisch‐protestantisch‐katholisch‐atheistische Generation. Die orientierungslosen Aktivisten‐Taten wie Ankleben von Händen und Füßen an Weißgottwas können demnach als Symbol und als Aufforderung gelesen werden für wirkliche Gedanken‐Taten der kommenden Generation: das Schaffen von neuen, stabilen und vor allen Dingen wirklichkeits- und lebensgemäßen Gedankenverbindungen.

(1) In «Grundlinien einer Erkenntnistheorie …» (GA 2) erweitert Rudolf Steiner mit Bezug auf Goethe den gewohnten Naturbegriff, indem er den menschlichen Geist als höhere Natur in der Natur aufzeigt und daraus die Geisteswissenschaft als eine besondere, höhere – eben goetheanistische – Naturwissenschaft entstehen lässt.

(2) Hervorhebungen hier und im folgenden von mir, I.A.S. Die Zitate von Frieder Sprich folgen alle dem Wortlaut in der «Gegenwart
2/22».

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