MICHAELI 2021

Keltische Anrufung Michaels:

O Michael über den Engeln
Und über den Gerechten des Himmels
Bewahre Du mir meine Seele
Mit einem Schatten Deiner Flügel
Bewahre Du mir meine Seele
Auf Erden wie auch im Himmel

Vor allen Feinden über dieser Erde
Vor allen Feinden unter dieser Erde,
Vor allen Feinden in der Verborgenheit –
Umschließe Du und bewahre Du
Mit einem Schatten Deiner Flügel
Meine Seele.


Michaeli 1922, Rudolf Steiner:

Ringende Geisteskräfte
Streben in Stoff.
Sie finden nicht den Stoff,
Sie finden sich selber.
Sie schweben über Natürlichem,
Sie leben in sich selber
Michael-Kraft atmend.

Der Mensch entwickelt sich von der schutzbefohlenen, gläubigen Seele in der vertrauensvollen, hoffnungsvollen Anrufung Michaels in alten keltischen Zeiten zum wachen Miterleben des Michaelwirkens in der Gegenwart im reinen Denken. Die Zeit des Bilderglaubens und der sich diesen anvertrauenden Seelen wird nun nach und nach vom reinen Denken und vom Unterscheiden geistiger Wesenheiten im Gedankenwirken abgelöst. Die ringenden Geisteskräfte, die sich gefunden haben im reinen Denken, leben stoffbefreit in sich selbst. Die Selbstfindung im vollen Bewusstsein – identisch mit dem «Tod», unserem Zustand als Tote! – danken sie der Schöpfung Rudolf Steiners, die uns als Geisteserbe überantwortet ist. Michael als «Antlitz Christi» offenbart sich als der erkraftete, die Seele von allem Unrat befreit und zur Sophia geläutert habende Seelengeist, der uns fähig mache, bereits als Erdenmenschen mit der Geistesoffenbarung Eins zu werden. Er ist der Engel mit dem leuchtenden Antlitz, dem lohenden weißen Haar, dem zweischneidigen Schwert, den erzglühenden Füßen, der, in der Vollmacht Christi, zum Zeitgeist aufgestiegen ist. In jedem karmischen Moment, den wir (die wir in Irrtümern zu streben pflegen und Wirrnis in allen Verhältnissen anrichten), dem Christus, dem Herrn des Karma, danken, der es möglich macht, in webender Gerechtigkeit, unsere alten unausgeglichenen Rechnungen ausgleichen zu können, gibt es den Moment der Freiheit, der diesen Ausgleich schafft. Jedes trübe oder blendende Vorbei an ihm bevölkert den Tummelplatz der Geister der Finsternis. Parzivals «Mitten-hindurch» ist der einzige Weg in die Menschenzukunft. Dasselbe will mit dem «Nadelöhr» gesagt sein. Von diesem steinigen Weg der immer und immer wieder von Neuem zu verwirklichenden Ent-scheidungen und der Vereinigung zweier Weltpotenzen in dem Dritten, der in mannigfaltigen Bildern verkündet ist – «O Vater, lass uns ziehn» (Goethes Mignon-Gesang); «Mein Joch ist leicht», tönt es im Kontrapunkt –, will dieses Heft sprechen. Den Weg muss jeder Einzelne durch sich selbst – jedoch nicht allein – finden. «Michaels weises Winken» begleitet ihn: Die Schöpfungstat Rudolf Steiners. Sie führt zum Bewusstsein des eigenen Menschentums, zu «Willensumwendung, Erkenntniserfahrung, Miterleben des Zeitenschicksals» – was auch das Motto dieser Zeitschrift ist.

Doch wenden wir uns nun dem Zeitgeschehen zu – mit einem Donnerschlag zum Auftakt, dem Schlusssatz von Karen Swassjans «Das Abendmahl des Menschen»: «Ich fing diese meine Aufzeichnungen zur ‹Philosophie der Freiheit› mit den ‹Fremden› an, die mich für einen Phantasten halten würden, würde ich ihnen sagen, dass sich die ganze zunehmende Idiotie unserer Zeit nach einem ungelesenen Buch diagnostizieren lässt. Wohlan! Die Alternative steht schon vor der Tür: Entweder Rudolf Steiner oder – Dada. Möge sich nun jeder um die Schlussfolgerung seines eigenen Lebens kümmern.» Auf die treibenden Kräfte dieser Gefahr wies Rudolf Steiner in vielen Aspekten hin, so etwa, als er sagte: «Von dem Schlimmen, was kommen wird, haben wir ja einen Vorgeschmack schon in der starken Abhängigkeit desjenigen, was durch die Buchdruckerkunst hervorgebracht wird als Presse […]. Dies […] als ein wichtiges okkultes Mittel zu fördern, das ist gerade dasjenige, was jene okkulten Brüderschaften wollen, weil das ihnen dient. […] Früher war eine Tyrannis dadurch da, dass gewisse Menschen eine Zeitlang verpflichtet waren, nur dasjenige für wahr zu halten, was Rom anerkannte.Die Tyrannis wird viel größer sein, wenn die Zeit kommen wird, wo […] Grundlage des Glaubens sein wird, […], was die Organe [der Presse (d. Red.)] jener okkulten Brüderschaften zu glauben erlauben werden: dass in keines Menschen Seele etwas anderes geglaubt werde, als was von jener Seite vorgeschrieben wird zu glauben, dass von keiner Seite andere Usancen in der Welt eingeführt werden, als was von jener Seite vorgeschrieben wird. Das streben jene Brüderschaften an.»
Es ist unschwer zu erkennen: die Zeit ist bereits angebrochen und in voller Fahrt. Die Technokraten verschmelzen mit der Tyrannis, so dass sich beide gegenseitig weitertreiben, um die Schöpfung Mensch, die sie instinktiv hassen, weil ihr individuelles Erkennen und Wissen sie in Grenzen weisen muss, auszutilgen und zu ersetzen mit programmierbaren, lenkbaren, berechenbaren transhumanistischen Homunculi. Geistige Wesen wie Engel (auch «Boten» genannt, Individualgeister), Erzengel (Volksgeister) und Zeitgeister, die als Seelengeister eine geordnete Menschheitsentwicklung ermöglichten und die nach der Bewusstseinswende der «Philosophie der Freiheit» darauf warten, von Menschen erbeten und gedacht zu werden, wollen diese Bruderschaften abschneiden von ihrer Erdenwirksamkeit. Die ahrimanischen Geister und ihre Scharen wollen sich an ihre Stelle stellen, alles berechnen und auf diese Weise kontrollieren. Wir stehen mitten in dem gewaltigen kosmischen Geisteskampf zwischen Michael und Ahriman, den Rudolf Steiner 1924/25 in seinen Leitsätzen und Michaelbriefen (GA 26) beschrieben hat. Können wir der gewaltigen materialistischen Suggestion, die unser gesamtes Bewusstsein aufsaugen will, den neuen Willen entgegensetzen: das neue Michaelbewusstein? können wir unserem Auf-der-Erde-Sein geistigen Wirklichkeitssinn abtrotzen? Wer will mit einem an Rudolf Steiner geschulten Denken das reflektierende Bewusstsein dem alten Monden-Spiegelwirken entreißen und ich-haft ver-erdigen? Keine leichte Sache. Sich auch noch mit ausgeträumten Mondenträumen Freunde machen zu wollen, wäre vielleicht der letzte der Mondenträume.
Hiermit ist schon ein freies Geistesleben angetönt als Glied im sozialen Organismus Rudolf Steiners. Ein Kampfplatz der Ideen. Ein Ort, von dem aus Nahrung und Spurenelemente in den übrigen sozialen Organismus fließen, um diesen mit Lebens-, Gleichgewichts- und Fortschrittskräften zu begaben. Die Einzelmenschen werden hier zu Boten. Der soziale Organismus Rudolf Steiners beginnt mit dem Geistesleben. Die Boten stehen auf dem Boden des Geistes und schaffen eine lebendige, sich entwickelnde Gemeinschaft, schaffen sich einen freien geistigen Arbeitszusammenhang, ein freies Geistesleben, und daraus wird ein Rechts- und ein Wirtschaftsleben geboren.

Die Soziallehre Rudolf Steiners wurzelt im Geistesleben und jeder kann das ganz leicht einsehen: Damit unsere Menschenbäuche voll werden (Marxens «Basis»), bedürfen die Einzelmenschen einiger kognitiver Anstrengung, die dem Wirtschaften unbedingt vorausgehen muss, sonst haben wir es nicht mit Wirtschaft, sondern mit dem Tierreich zu tun. Bei den Tieren sorgt der Gruppeninstinkt für Schutz und Nahrung. Marx, der Hegels Mensch vom Kopf auf die Füße stellen wollte, stellte ihn irrtümlich auf den Bauch, und in Marxens Walfischbauch leben wir heute, er ist unser finsteres, gurgelndes, aufzehrendes Schicksal geworden. Wenn wir uns nicht endlich eines besseren besinnen wollen!
Bei Steiner steht der Mensch aufrecht und würdevoll auf beiden Füßen. Wenn nun Steiner sagt, das Soziale sei der umgekehrte Mensch, Geistesleben entspreche dem Stoffwechselsystem, Rechtsleben dem rhythmischen System und Wirtschaftsleben dem Nerven-Sinnessystem, so ist, wenn man den Menschen nicht zum kopfstehenden Yogi machen will, die Konsequenz davon, dass der soziale Organismus eben mit dem Geistesleben beginnt, und sich nach oben durchs Rechts- zum Wirtschaftsleben hin aufrichtet. So dass der Kopf des sozialen Organismus das Wirtschaftsleben ist, und seine Basis das Geistesleben. Dann kann der Mensch ganz aufrecht mit seiner ganzen Würde entsprechend im Sozialen darinnen stehen und zum Boten, ja zum Merkur werden, der für den Austausch der entsprechenden Substanzen: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit durch die drei Glieder sorgt: Seine Gedanken ernähren den sozialen Organismus. Sein Empfinden reguliert das Verhältnis von Mensch zu Mensch, mit seinen Händen und Füßen dient und opfert er dem Geist.
Was ontologisch das Abgeleitete ist, weil ihm das Denken, das Organisieren, das Assoziieren – ein Geistesleben – vorangeht: das Wirtschaftsleben, ist psychologisch das erste, weil wir als Einzelmenschen bereits ein Wirtschaftssystem vorfinden. Aber andere vor uns haben anstelle eines vormenschlichen Instinktwesens das soziale Organ Wirtschaftsleben aus ihrem Geist hervorgebracht.

Ein Modell?
Mir begegnet es immer wieder, dass «Dreigliederer», die zwar – an der Zungenspitze und mit bestem Willen – Bildung und Kultur aus der Vormundschaft des Staates befreien wollen, den Geist, wo er wahrhaft lebt, sich vom Leib halten wollen. Ihr Befreiungsruf entlarvt sich als phrasenhaft und unwirklich – und damit ist ihr Bestreben aussichtslos. Wenn es überhaupt zu etwas führt, dann ganz bestimmt nicht zum dreigliedrigen sozialen Organismus, wie ihn Rudolf Steiner denkt und ihn uns zu denken aufgibt. Zur konkreten Veranschaulichung möge ein Aperçu aus einem Artikel dienen, der Werbung machen will für Rudolf Steiners soziale Dreigliederung. Solches kann einem aber auf Schritt und Tritt begegnen: «… Das Ziel ist […] eine individualistisch geprägte und dennoch sozial verantwortbare Ordnung. Denn anstelle einer kollektivistisch organisierten Volksmasse kann durch sozialen Wandel individuelle Verantwortungsfähigkeit entstehen, wenn sich die Gesellschaft so organisiert, dass sie sich organisch entfalten kann. Ein Modell für diese soziale Orientierung kann die ‹Dreigliederung des sozialen Organismus› sein. …» – «Ein Modell … kann sein»: Ein Modell nebst beliebigen anderen!? Rudolf Steiner auf einer glattgebügelten Ebene neben Uno-Charta, Talibanherrschaft und Schreibtischtätern in Thinktanks …? Der konkrete Geist, der eben die unbequemen Unterschiede macht, ist hier unwillkommen und ausgeblendet. Darauf aufmerksam Machende werden als lästige Theoretiker empfunden: was wollen denn isolierte Grübler unser praktisches Tun durch ihre Spitzfindigkeiten behindern? Klar, es liegen solch «praktischem» Wirken für die Dreigliederung die besten Absichten zugrunde: Als «Dreigliederer» will man heute nicht mehr luziferisch-dogmatisch werden! – Führt aber leider von der Kehrseite einen ahrimanischen Dogmatismus ein. Die – ahrimanische – Profanation ist nur das andere Ende der – luziferischen – Vergötterung und damit ebenso dogmatisch und mindestens so schädlich. Die Verleugnung des geistigen Ranges Rudolf Steiners ist für ein praktisches Fußfassen der sozialen Dreigliederung höchst ungeeignet. Ich frage diese dogmatischen Antidogmatiker unter den Propheten für soziale Dreigliederung, auf welchen Geist soll denn der zukunftsfähige soziale Organismus schließlich gebaut werden? Ich mache aufmerksam auf einen Unbequemen: Karl Ballmers Arbeiten und Leserbriefe zu sozialen Themen geben einem praktisch wirken Wollenden im Sinne der sozialen Dreigliederung Vorbild und geistige Stütze, um sich allmählich aus den luziferischen wie auch aus den ahrimanischen Fellen und Fallen zu befreien.

Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft heute
Die einst selbstbewusste Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft sitzt vor ihrem Scherbenhaufen und beklagt das Versagen einstmaliger hehrer Ideale. Man (gez. Andreas Heertsch, Justus Wittich u.a. Vorstandsmitglieder im Briefanhang zu Ein Nachrichtenblatt Nr. 18, 19. Sept. 2021) bittet enttäuschte Mitglieder um vorbereitende Beiträge für ein Rundtischgespräch im kommenden Frühling. Es ist nicht klar, ob Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit überwiegen sollen, es ist eine ganz und gar jämmerliche Aktion. Der einst so hehr die Stimmung tausender Mitglieder beflügelnde Wunschgebieter ist wie ein gepiercter Luftballon in sich zusammengeschrumpft. Ja, wo vor 20, 30 Jahren noch einiger warmer Enthusiasmus wehte, wurde der letzte Rest michaelischen Muts herausgetrieben. «Die Geisteskräfte kommen, rufe sie!», ermuntert Maria den Johannes Thomasius in «Der Seelen Erwachen». Wäre die Gesellschaft, oder was davon übrig geblieben ist, zu solchem johanneisch-michaelischem Ruf bereit? Regt sich in ihren Vorstandesselbsten noch etwas den Tiefenkräften Wahlverwandtes?

«Die Geisteskräfte kommen – rufe sie. –
In Geistesweltengründe lenk‘ den Blick
Und warte, bis die Kräfte in den Tiefen
Empfinden, was in deinem eignen Selbst
Mit ihrem Wesen wahlverwandt sich regt.
Sie zaubern dir vor deine Seheraugen,
Was sie und dich zur Einheit werden lässt.
Verbanne eignen Sinnes störend Sprechen,
So spricht der Geist in dir mit Geisteswesen;
Und diesem Geistersprechen höre zu.
Es trägt dich zu den Lichtessphären hin
Und bindet dich an Geisteswesenheit.
Was dir aus abgelebten Zeiten dämmert,
Erscheint dir dann im Weltenlichte deutlich;
Und zwingt dich nicht, weil du es lenken kannst.
Vergleich es mit der Elemente Wesen,
Mit Schatten und mit Schemen aller Art,
Auch stell es neben mancherlei Dämonen,
Und so erfahre, was es wirklich gilt.
Doch dich ergründe in der Geister Reich,
Die Urbeginn verbinden andrem Urbeginn,
Die Weltenkeimeskräften nah sich wissen
Und Sphärenzielgedanken Richtung weisen.
Es wird dich solche Weltenschau erkraften,
Dass du im Geistgewoge dir das Sein
Im Seelenkerne wesenhaft vereinst.» (GA 14)

Die Rudolf Steiner-Blätter Karl Ballmers verbannte man seinerzeit aus dem Goetheanum. Und heute dasselbe mit der Agora. Und mit deren Autoren, die nicht nur schreiben, sondern auch sprechen können. Die Vorstände stehen noch vor der Schwelle eines Aufflammens von brennendem existentiellem Interesse für die michaelische Bewusstseinswende – und wie manchem zur Anthroposophie Berufenen wohl vor dem Glück, Rudolf Steiner zeitgemäß begegnen zu können?

Iris-Astrid Seiler
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