AGORA 4-2020: DAS SCHWEIGEN DER KÄLBER
Worum geht es in dem Artikel „Anthroposophisches Gutmenschentum“?
Ich brauche die Gedanken nur in jener Form festzuhalten,
in der sie in unmittelbarer Erfahrung auftreten,
und sie erscheinen schon als gesetzmäßige Bestimmungen.
Iris-Astrid Seiler
Anthroposophisches Gutmenschentum
am Beispiel von Peter Selg. Eine Auseinandersetzung anhand von seinen beiden kürzlich erschienenen Büchern: «Rudolf Steiner, die Anthroposophie und die Rassismus-Frage» sowie «Klima-Wandel. Greta und wir»(1).
Ausgangslage
Kein Zweifel, dass die Kriterien, um Anthroposophie vertreten zu können, einzig und allein innerhalb der Anthroposophie gesucht werden müssen. Nach eigener Aussage ist Rudolf Steiner in seinem Werk und Wirken nie von den in seinen erkenntnistheoretischen Schriften erarbeiteten Grundsätzen für die Geistesforschung abgewichen. Zum Beispiel in «Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung» (GA 2) lassen sich «Prüfsteine» finden, Forderungen, die als Bedingungen für eine Kontinuität anthroposophischer Arbeit gelten müssen. Wir haben zwei Passus ausgewählt. Hier der erste (der zweite folgt weiter unten):
[…] Denn diese [Philosophen, für deren Fragen sich niemand interessiert, I.A.S.] haben ihren wissenschaftlichen Standpunkt nicht dadurch gewonnen, daß sie die Keime in den wissenschaftlichen Leistungen jener Geistesheroen zur Entwicklung gebracht haben. Sie haben ihren wissenschaftlichen Standpunkt außerhalb jener Weltanschauung, die Schiller und Goethe vertreten haben, gewonnen und ihn nachträglich mit derselben verglichen. Sie haben das auch nicht in der Absicht getan, um aus den wissenschaftlichen Ansichten der Klassiker etwas für ihre Richtung zu gewinnen, sondern um dieselben zu prüfen, ob sie vor dieser ihrer eigenen Richtung bestehen können.»(2)
Hier liegt die Trennlinie zwischen uns und der akademischen Steinerforschung. Zu dieser letzteren zählen auch jene Anthroposophen, die selber einer akademischen Laufbahn entstammen und ihr Anthroposophieverständnis deren Vorgehensweise unterordnen. Sie haben ihre wissenschaftliche Position außerhalb jener Weltanschauung gewonnen, die Rudolf Steiner vertritt, und sie nachträglich mit derselben verglichen. Sie haben das auch nicht in der Absicht getan, um aus den wissenschaftlichen Ansichten Rudolf Steiners etwas für ihre Richtung zu gewinnen, sondern um dieselben zu prüfen, ob sie vor dieser ihrer eigenen Richtung bestehen können. … …
Lesen Sie den Artikel ganz im Heft 4-2020. Bestellmöglichkeit s. unten.
(1) beide erwähnten Publikationen von Peter Selg sind im Verlag des Ita Wegman-Instituts, Arlesheim, 2020 erschienen.
(2) Diese Aussagen Rudolf Steiners sind kontextuelle Vorbedingungen (nicht zu verwechseln mit der Erfüllung des Postulats einer inhärent-sachlichen Voraussetzungslosigkeit) seiner Erkenntniswissenschaft und damit seiner anthroposophischen Geisteswissenschaft. Durch seine Erkenntnistheorie bindet Steiner die Geisteswissenschaft so an die Naturwissenschaft, dass sie deren Empirismusparadigma treu bleibt, dieses jedoch auf das Übersinnliche ausdehnt (das ja traditionell die Domäne der Metaphysik und Religion war, von welchen sich die Naturwissenschaft stolz distanzierte). Goethes und Schillers und überhaupt der Klassiker Geist war so beschaffen, dass er es ermöglichte, die scheinbar diametral einander gegenüberstehenden naturwissenschaftlichen, metaphysischen, mystischen und religiösen Geistesrichtungen in einer gemeinsamen empirischen Grundlage zu vereinigen. Was also über mehrere Jahrhunderte in diverse Strömungen getrennt war, widerspruchsfrei in eine einheitliche Geistesrichtung zu vereinen, darin lag die erkenntniswissenschaftliche Leistung Dr. Rudolf Steiners.
(3) «Aber es gibt eine Art von Selbstbeobachtung, die sich um die Gesetzlichkeit des eigenen Tuns fragt, und welche für die […] Naivität das Bewußtsein eintauscht, daß sie genau die Tragweite und Berechtigung dessen kennt, was sie vollführt. Diese wollen wir kritisch nennen. Wir glauben damit am besten den Sinn dieses Begriffes zu treffen, wie er sich seit Kant mit mehr oder minder klarem Bewußtsein in der Philosophie eingebürgert hat. Kritische Besonnenheit ist demnach das Gegenteil von Naivität. Wir nennen ein Verhalten kritisch, das sich der Gesetze der eigenen Tätigkeit bemächtigt, um deren Sicherheit und Grenzen kennen zu lernen.» (Rudolf Steiner, Wahrheit und Wissenschaft, Kap. III).
Dein Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns Deinen Kommentar!