AGORA 4-2020: DAS SCHWEIGEN DER KÄLBER

Worum geht es in dem Artikel „Anthroposophisches Gutmenschentum“?


Ich brauche die Gedanken nur in jener Form festzuhalten,

in der sie in unmittelbarer Erfahrung auftreten,
und sie erscheinen schon als gesetzmäßige Bestimmungen.
Dr. R. Steiner

Iris-Astrid Seiler
Anthroposophisches Gutmenschentum
am Beispiel von Peter Selg. Eine Auseinandersetzung anhand von seinen beiden kürzlich erschienenen Büchern: «Rudolf Steiner, die Anthroposophie und die Rassismus-Frage» sowie «Klima-Wandel. Greta und wir»(1).

Ausgangslage

Peter Selg ist Anthroposoph. Als Autor, Verleger, Vortragender und Leiter des Ita Wegman Instituts sogar ein tonangebender. Einer also, der Anthroposophie vor der Welt repräsentiert. Er ist Amtsträger im Vorstand der Schweizerischen Anthroposophischen Landesgesellschaft und Hoffnungsträger von vielen Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft, die mit dem Weg, den der Vorstand und die Hochschule für Geisteswissenschaft eingeschlagen haben, nicht einverstanden sind. In den vergangenen Wochen ist Peter Selg mit zwei weiteren seiner überreichlich vielen Publikationen an die anthroposophische Öffentlichkeit getreten: «Rudolf Steiner, die Anthroposophie und der Rassismusvorwurf» und «Klima-Wandel, Greta Thunberg und wir». Ihrem Autor ist es also geschuldet, dass die beiden Publikationen mit dem Anspruch auftreten, anthroposophisch zu sein, d.h. Anthroposophie, die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners zu repräsentieren. Beim Lesen dieser Publikationen sehe ich jedoch gravierenden Anlass, diesen Anspruch für nicht erfüllt zu halten, und ich muss die Frage aufwerfen, was oder wen vertritt Peter Selg eigentlich?

Kein Zweifel, dass die Kriterien, um Anthroposophie vertreten zu können, einzig und allein innerhalb der Anthroposophie gesucht werden müssen. Nach eigener Aussage ist Rudolf Steiner in seinem Werk und Wirken nie von den in seinen erkenntnistheoretischen Schriften erarbeiteten Grundsätzen für die Geistesforschung abgewichen. Zum Beispiel in «Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung» (GA 2) lassen sich «Prüfsteine» finden, Forderungen, die als Bedingungen für eine Kontinuität anthroposophischer Arbeit gelten müssen. Wir haben zwei Passus ausgewählt. Hier der erste (der zweite folgt weiter unten):

«Wenn wir irgendeine der Hauptströmungen des geistigen Lebens der Gegenwart nach rückwärts bis zu ihren Quellen verfolgen, so treffen wir wohl stets auf einen der Geister unserer klassischen Epoche. Goethe oder Schiller, Herder oder Lessing haben einen Impuls gegeben; und davon ist diese oder jene geistige Bewegung ausgegangen, die heute noch fortdauert. Unsere ganze deutsche Bildung fußt so sehr auf unseren Klassikern, dass wohl mancher, der sich vollkommen originell zu sein dünkt, nichts weiter vollbringt, als dass er ausspricht, was Goethe oder Schiller längst angedeutet haben. Wir haben uns in die durch sie geschaffene Welt so hineingelebt, dass kaum irgend jemand auf unser Verständnis rechnen darf, der sich außerhalb der von ihnen vorgezeichneten Bahn bewegen wollte. Unsere Art, die Welt und das Leben anzusehen, ist so sehr durch sie bestimmt, dass niemand unsere Teilnahme erregen kann, der nicht Berührungspunkte mit dieser Welt sucht.
[…] Denn diese [Philosophen, für deren Fragen sich niemand interessiert, I.A.S.] haben ihren wissenschaftlichen Standpunkt nicht dadurch gewonnen, daß sie die Keime in den wissenschaftlichen Leistungen jener Geistesheroen zur Entwicklung gebracht haben. Sie haben ihren wissenschaftlichen Standpunkt außerhalb jener Weltanschauung, die Schiller und Goethe vertreten haben, gewonnen und ihn nachträglich mit derselben verglichen. Sie haben das auch nicht in der Absicht getan, um aus den wissenschaftlichen Ansichten der Klassiker etwas für ihre Richtung zu gewinnen, sondern um dieselben zu prüfen, ob sie vor dieser ihrer eigenen Richtung bestehen können.»(2)
Was Rudolf Steiner von Goethe und Schiller einerseits, andererseits aber von jenen Wissenschaftlern schreibt, die ihr Glück außerhalb dieser Geistesströmung suchen, darf von uns «Nachfahren» und Schülern der Anthroposophie keineswegs in einen Topf geworfen werden. Hingegen muss man hier strengstens unterscheiden zwischen Rudolf Steiner (in der Linie Goethe-Schiller) und denjenigen, ob nun Anthroposophen oder Anthroposophie-Gegnern, die sich mit ihm befassen. Rudolf Steiner führt heute die von ihm genannte Geistesströmung der deutschen Bildung an, weil er sie, getreu seiner eigenen Forderung, in die Anthroposophie einmünden ließ. Er schuf daraus seine Erkenntniswissenschaft, d.h. die Basis für Natur- und Geisteswissenschaft und vereinigte so die beiden in der Anthroposophie. Als Schüler Rudolf Steiners stehen wir deshalb (allerdings nur in diesem Aspekt) zu ihm, wie er zu den Klassikern stand. Auf dem Boden der Anthroposophie stehend, sagen wir also sinngemäß: Wir haben uns in die durch Rudolf Steiner geschaffene Welt so hineingelebt, daß jeder, der sich außerhalb der von ihm vorgezeichneten Bahn bewegen und über ihn Urteile fällen wollte, nur mit unserem scharfkritischen und kompromisslosen Verständnis(3) rechnen kann. Diese Verstärkung der obigen Sentenz Rudolf Steiners rührt lediglich davon her, dass wir uns heute der Bedeutung des Ereignisses Rudolf Steiner (der Ausdruck ist von Karl Ballmer) bewusst sind.

Hier liegt die Trennlinie zwischen uns und der akademischen Steinerforschung. Zu dieser letzteren zählen auch jene Anthroposophen, die selber einer akademischen Laufbahn entstammen und ihr Anthroposophieverständnis deren Vorgehensweise unterordnen. Sie haben ihre wissenschaftliche Position außerhalb jener Weltanschauung gewonnen, die Rudolf Steiner vertritt, und sie nachträglich mit derselben verglichen. Sie haben das auch nicht in der Absicht getan, um aus den wissenschaftlichen Ansichten Rudolf Steiners etwas für ihre Richtung zu gewinnen, sondern um dieselben zu prüfen, ob sie vor dieser ihrer eigenen Richtung bestehen können. … …
Lesen Sie den Artikel ganz im Heft 4-2020. Bestellmöglichkeit s. unten.

(1) beide erwähnten Publikationen von Peter Selg sind im Verlag des Ita Wegman-Instituts, Arlesheim, 2020 erschienen.
(2) Diese Aussagen Rudolf Steiners sind kontextuelle Vorbedingungen (nicht zu verwechseln mit der Erfüllung des Postulats einer inhärent-sachlichen Voraussetzungslosigkeit) seiner Erkenntniswissenschaft und damit seiner anthroposophischen Geisteswissenschaft. Durch seine Erkenntnistheorie bindet Steiner die Geisteswissenschaft so an die Naturwissenschaft, dass sie deren Empirismusparadigma treu bleibt, dieses jedoch auf das Übersinnliche ausdehnt (das ja traditionell die Domäne der Metaphysik und Religion war, von welchen sich die Naturwissenschaft stolz distanzierte). Goethes und Schillers und überhaupt der Klassiker Geist war so beschaffen, dass er es ermöglichte, die scheinbar diametral einander gegenüberstehenden naturwissenschaftlichen, metaphysischen, mystischen und religiösen Geistesrichtungen in einer gemeinsamen empirischen Grundlage zu vereinigen. Was also über mehrere Jahrhunderte in diverse Strömungen getrennt war, widerspruchsfrei in eine einheitliche Geistesrichtung zu vereinen, darin lag die erkenntniswissenschaftliche Leistung Dr. Rudolf Steiners.
(3) «Aber es gibt eine Art von Selbstbeobachtung, die sich um die Gesetzlichkeit des eigenen Tuns fragt, und welche für die […] Naivität das Bewußtsein eintauscht, daß sie genau die Tragweite und Berechtigung dessen kennt, was sie vollführt. Diese wollen wir kritisch nennen. Wir glauben damit am besten den Sinn dieses Begriffes zu treffen, wie er sich seit Kant mit mehr oder minder klarem Bewußtsein in der Philosophie eingebürgert hat. Kritische Besonnenheit ist demnach das Gegenteil von Naivität. Wir nennen ein Verhalten kritisch, das sich der Gesetze der eigenen Tätigkeit bemächtigt, um deren Sicherheit und Grenzen kennen zu lernen.» (Rudolf Steiner, Wahrheit und Wissenschaft, Kap. III).

 

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