AGORA DEZEMBER 2019
DIE ANTHROPOSOPHISCHEN PROFESSOREN SCHIEREN UND KLÜNKER IM PRISMA DES SCHICKSALSJAHRES 1923:
«Aber ich bitte, nicht zu vergessen, dass dies in der eigenen Zeitschrift der Anthroposophenschaft abgedruckt wird, dass diese also das Sprachrohr ist für solche Dinge, die mir an den Kopf geschmissen
werden. Wir sind also an dem Punkt angelangt, wo in der Zeitschrift, die in Stuttgart erscheint, die Verleumdungen der Gegner wörtlich abgedruckt werden; das heisst, wir brauchen nicht mehr die Gegner zum Verleumden, wir haben dazu die eigenen Zeitschriften.»
«Ich möchte doch noch einmal einen Einspruch
machen, verzeihen Sie. Es liegt also die Tatsache vor, dass in der eigenen Zeitschrift das Sprachrohr gebildet wird für die Verleumdungen der Gegner, dass die Gegner nicht mehr nötig haben, ihre Zeitschriften zu benutzen. Wie ist es möglich, dass diese verleumdenden Gegner verhimmelt werden in einem Artikel in unserer eigenen Zeitschrift?»
Rudolf Steiner (GA 259, S. 597-598)
Editorial
ANTHROPOSOPHIE UND ANTI-ANTHROPOSOPHIE
Das Projekt «Steiner Studies»(1) lockt die Gegner aus den eigenen Reihen an den Tag.
Würde ein Herr Schieren, seines Zeichens Professor für Schulpädagogik an der Alanus-Hochschule in Alfter und Redaktor der Zeitschrift «Anthroposophie», nicht nur sich hinter seinem Professorentitel verschanzend vom Bewusstsein reden, sondern es auch gebrauchen, käme etwas ganz anderes heraus, als was eben herauskommt. Hiess es doch kürzlich in der Goetheanum-Wochenschrift (Nr. 48/2019): «Ich war persönlich sehr erstaunt über die heftigen Reaktionen, die erfolgt sind» – als nämlich bekannt wurde, dass Schieren dem wissenschaftlichen Beirat von Christian Clements «Steiner Studies» beitreten würde. «Bisher ist ja nicht ein Artikel darin erschienen»(2). Nun, darauf kommt es ja gar nicht an, dass schon etwas erschienen sein müsste! Worauf kommt es denn an? Um das zu sehen, muss man offenbar mehr von Anthroposophie verstehen, als es die Herren Schieren und Klünker tun, die unter Clements Fittichen ein ehrenvolles Amt mehr zu besetzen glauben. In unserer Stellungnahme dürfte einiges in der Angelegenheit klar werden.
Herr Schieren verteidigt seinen Schritt im «Goetheanum», indem er bereits erfolgte Kritik an dieser Angelegenheit (und unsere vorwegnehmend) zuerst flachbügelt, um sie dann vom Tisch zu wischen. Dazu gehört die mutige anthroposophische Abwehr gegen Zander, die einzelne Anthroposophen erarbeitet haben und die Schieren hier aber kurzerhand durch das populäre Klimaargument («Dämonisierung», «martialische Sprachwahl») ebenfalls flachbügelt. Wo, bitte, bleibt die Stellungnahme zu den – martialisch oder nicht – hervorgebrachten sachlichen Analysen? Worauf es eben ankommt, das soll durch diese Agora aus der Plattheit erlöst und aufgefächert werden, um es in räumlich-zeitlichen Verhältnissen sowie in seinem Urphänomen sehen zu können. Dann sieht es anders aus. Es geht gar nicht um die phrasierten «Negativerwartungen», es geht auch nicht «ums Prinzip» – sondern es geht um eine Analyse der gesamten Situation, um GESEHENE Tatsachen, wie sie einem wachen Bewusstsein offenbar werden. Herr Schieren renommiert am Schluss des Artikels mit angeblichen Notwendigkeiten des Bewusstseinsseelenzeitalters. Er möge jetzt an diesen Zeilen seine angepriesene Ambiguitätstoleranz üben, die er der Bewusstseinsseele unterjubelt. Ambiguitätstoleranz ist nur ein aufgeblasenes, akademisch entstelltes Wort für das Aushalten von Widersprüchen – ein Relikt aus vorchristlichen Zeiten, das durch den Christusimpuls erlöst wird. Es ist überall da gefordert, wo KEIN Erkennen ist! Man kann das natürlich auch heute, und ganz besonders im akademischen Umfeld(!) üben, denn es gibt wohl nichts toleranteres in der Welt, als die Lenker der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit, welche die Universität offensichtlich heute zum Nachhilfeunterricht gestalten. Der Unterricht im Erkennen, das zu wirklichem Wissen führt, ist bei Rudolf Steiner zu finden. So geht es nicht an, dass die sich an den Strohhalmen der altersschwachen Alma Mater festhaltenden Schüler den Künder und Lehrer des Heiligen Geistes mit hinab in die alten Sümpfe der einstmaligen Grenzen der Erkenntnis ziehen, wo aus Rudolf Steiner erst ein Mus aus ewiggestrigem Mystiker, undurchsichtigem Esoteriker, unverbesserlichem Metaphysiker, Phantasten usw. zubereitet wird, um es dann desto weniger ernstnehmen zu müssen oder um es gar zu verlachen. Dies wird heute von einer ganzen Reihe von Anthroposophen empfunden und auch gesehen. Einige wollen nun ein Bewusstsein vom spezifischen Wissenschaftscharakter der Anthroposophie herausarbeiten und mitunter auch fassbare Kriterien aufstellen. Klare Worte zu diesem echten, anthroposophischen Thema fand Karl Ballmer bereits im Jahr 1928. Sie mögen allen eine Stütze sein, die es erst meinen mit dem Goetheanismus.
In Fällen wie demjenigen Schierens pflegt die belobigte Tugend der Ambiguitätstoleranz jedoch genau dort an ihre Grenzen zu stossen, wo sie am meisten vonnöten wäre: an der Kritik aus den eigenen Reihen. Dem Bewusstseinsseelenzeitalter würde es schon näher kommen, wenn die Herrschaften nicht zu den Empfindungen («huch, martialisch») Zuflucht nehmmen wollten, sondern die vorgebrachte Sache zu verstehen versuchten. Wie hätte denn der soziale Organismus gesünder werden können, wo doch der wegen sozialen Klimapräferenzen ungekämpfte Geisteskampf seine aufgestauten Kräfte an ein Gretchen verschenkt und in der politischen Sphäre als die Millionen elektrisierende Klimarettung (ein neuer Tarnanzug der bereits entlarvten political correctness) seinen Auspuff findet? Doch ganz bestimmt begrüsst Herr Schieren Greta mit einem «Daumen hoch» – und so dreht sich seine Welt einmal mehr im Leerlauf um sich selbst.
Wer schläft, der geht eben solchem konziliant-beschwichtigenden Geschwätz, wie es im erwähnten Goetheanum-Interview mit dem Untertitel «Dialogbereitschaft als Bewusstseinsaufgabe» als massgeblich für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft verbreitet wird, auf den Leim.
Ein Zeichen von Wachheit ist zu erkennen in dem, was Friedwart Husemann und der Dresdner- und Jenaer Zweig getan haben: Die Entlassung Schierens und seines Kollegen Klünker aus der Redaktion der Zeitschrift «Anthroposophie» zu fordern.
Ein Zeichen von Wachheit bestünde auch darin, zu kapieren, dass aus dem «Goetheanum – Wochenschrift für Anthroposophie» längst eine «Wochenschrift für Anti-Anthroposophie» gemacht worden ist, indem sie etwa, wie im jüngsten Exemplar einen Zander von Schieren aus der Bratpfanne seines verdienten Kamaloka fischen lässt. Die Redaktion der Goetheanum-Wochenschrift, die sich konziliant, gesprächsbereit und ambiguitätstolerant einschläfern lässt von den haltlosen Beschwichtigungen eines Professor Schieren, wäre ebenso zu entlassen! Wer das nicht ohnehin schon sieht, dem kann es klar werden anhand eines erschütternden, eindeutigen Vorfalls aus dem «Schicksalsjahr 1923». Bereits damals – just zu der Zeit, als Rudolf Steiner die Führung der Gesellschaft immer mehr selber in die Hände nehmen musste – hatte man einen Gegner in der eigenen Zeitschrift belobigt, und die Sache wäre im Sand verlaufen und uns heute nicht bekannt, hätten nicht doch einige beherzte Mitglieder dafür gesorgt, dass Rudolf Steiner darauf angesprochen wurde. Rudolf Steiners Worte zu diesem Vorfall fallen ungemein scharf aus.
Noch vor dem Interview in der Wochenschrift erfolgte ein erster offizieller Einschläferungsversuch im Antwortbrief der Deutschen Landesgesellschaft auf die Dresdner Entlassungsforderung, der von Frau Angelika Sandtmann verfasst wurde. Nomen est omen: es wird hier mit engelhafter Sanftheit versucht, den Zeitgenossen Sand in die Augen zu streuen. (Die Wachen unter ihnen aber machen die Augen schon vorher zu – um besser sehen zu können.) Die ungemein scharfen Worte richtet Rudolf Steiner auch gegen die – mit Frau Sandtmanns und Herrn Schierens Argumenten teils fast bis aufs Wort identischen! – Rechtfertigungsversuche von damals! Sie folgen nach dem Schlusswort seines Vortrags vom 22. Juli 1923.
In der Aura dieses selben Problemkreises befindet sich auch nach wie vor die Waldorfpädagogik. Das Thema wird mit positiven Beiträgen im zweiten Teil unseres Heftes weitergeführt. Das Positive liegt in der Fragerichtung: wie kann das Selbstverständnis von Waldorfpädagogik aus der Quelle der Geisteswissenschaft heute bereichert werden – wofür auch diesmal Johannes Kartje und Rüdiger Blankertz verantwortlich zeichnen. Der Artikel von Johannes Kartje ist entstanden als Auswertung der ersten Lehrertagung von vergangenem Sommer.
In dem Zusammenhang möchten wir auf unsere zweite Lehrertagung hinweisen, die am 29. Februar/1. März wiederum in Winterthur stattfinden wird. Das Thema diesmal: Die Ausbildung zum Waldorflehrer heute, vor hundert Jahren und in der Zukunft.
Die Referenten sind Prof. Karen Swassjan: Dozent für Anthroposophie und Autor, Rüdiger Blankertz: Seminarleiter, Autor und Waldorflehrer i.R., Maria Dörig: Waldorf-Kindergärtnerin und Ausbildnerin und Johannes Kartje: praktizierender Waldorflehrer. Wir baten sie um eine kurze Skizze der geplanten Beiträge.
Den Abschluss des Heftes macht diesmal ein Essay über die Gotik von Karen Swassjan: «Der Fall nach oben». Ungewohnt und ungemein bereichernd kann es sein, die Gotik durch die Augen derjenigen zu sehen, denen sie erstmals als ein neues Phänomen begegnete. Man stelle sich das vor: da entsteht vor deinen Augen eine gotische Kathedrale als ein Niedagewesenes! Muss die Seele nicht rebellieren an den unbekannten Empfindungen? Den Dimensionen? Der Fülle an differenziertesten Eindrücken? Geschmacksurteile werden gefällt von den grossen, am hellenischen Ideal gebildeten Geistern, die uns Nachgeborene, die wir schulmässig, will heissen: apriori auf den Schwingen der Bewunderung, an die Gotik herangeführt wurden, vollkommen verblüffen. – Was ist eine gotische Kathedrale (nebst allem bisher bekannten und soeben neu erfahrenen auch noch), möchte man nach der Lektüre fragen, aber nur im Innesein der Antwort: Verhältnisse ins Unverhältnismässige getrieben. So haben «wir» es noch nie betrachtet (wer doch, der möge mir diese Pauschalisierung verzeihen). Nichts wird uns dabei genommen, «wir» aber werden um Ansichten reifer.
Die Fortsetzung des Briefwechsels Karl Ballmers mit Agnes Kern sowie des Vortrags Rudolf Steiners über Gesundheit und Krankheit unterbrechen wir diesmal zugunsten von anthroposophisch klärenden Beirägen zu den bereits angesprochenen Vorgängen in der anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung.
Zum selben Thema findet vom 26. bis 31.12., in der Altjahrswoche, auch eine Weihnachtsarbeit mit Prof. Swassjan in Aeschiried im Berner Oberland statt: Anthroposophie– Anthroposophische Bewegung – Anthroposophische Gesellschaft . Wer sich kurzfristig und spontan anschliessen möchte: es gibt noch freie Plätze. Auskunft und Anmeldung telefonisch: 004 1-(0)76 474 11 70, oder per e-Mail:
Wir wünschen allen Lesern eine besinnliche Weihnachtszeit und viel Licht und Bewusstsein durch die heiligen Nächte!
Iris-Astrid Seiler
(1) «Steiner Studies» verstehen sich als: «Internationale Zeitschrift für kritische Steiner-Forschung / International Journal for Critical Steiner Research.» Sie wurde von Christian Clement und Hartmut Traub gegründet, mit hohem akademisch-wissenschaftlichem Anspruch
(2) «… Pro Jahr werden vier auf Deutsch oder Englisch verfasste Beiträge kontinuierlich veröffentlicht.» (Quelle: www.steiner-studies.com, Anfang Dez. 2019). Bei dieser Frequenz muss stark ausgesiebt werden. Ganz klar wird damit Meinungsführerschaft, pardon: Deutungshoheit angestrebt. Künftig werden also Akademiker Rudolf Steiner periodisch und systematisch verunglimpfen. Damit wird der Weg zur wahren Geistesforschung weiter zubetoniert. Wer dagegen glaubt, dass die Kritik und Frequenz der Erwähnung Rudolf Steiners in akademischen Publikationen irgend etwas zum Fortkommen der Geisteswissenschaft beitragen wird, möge daran erinnert sein, dass Essen, über das geschrieben wird, nicht nährt. Nähren tut es erst, wenn es auch gegessen wird. Auf die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners übertragen, die nicht so leicht ist wie Essen: Sie muss gelernt sein. Aber die Akademiker (und nicht nur sie) wollen nicht lernen, sondern gleich «kritische Forschung» betreiben – ohne eine blasse Ahnung davon zu haben, an was oder WEM sie da vorbeiforschen!
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