Permanenz der Auferstehung1
Skizzenhaftes 2
Rudolf Steiners Lebenswerk, dem er den Namen Anthroposophie gab, wurzelt nicht in irgendeiner – christlichen oder unchristlichen – esoterischen Tradition, sondern restlos in seiner «Philosophie der Freiheit». Die letztere wiederum, das Werk des 33-jährigen, hat ihren erkenntnistheoretischen Ursprung im Buche «Wahrheit und Wissenschaft». Dieser Zusammenhang ist für den Studenten der Anthroposophie von entscheidender Bedeutung. Fragt sich nur, ob und inwiefern er fähig ist, damit umzugehen. Etwa beim Lesen der sogenannten «Zyklen», die man, falls ihre Grundlage nicht in den beiden genannten Büchern erkannt wird, gemeinhin okkult «erklärt» und dadurch einfach entwichtigt. Es wäre schief und von irreparablen Folgen, wenn wir nur die Ergebnisse der Anthroposophie aufnähmen, nicht aber auch die Art, wie diese gewonnen werden. Ist Anthroposophie ein Erkenntnisweg, so schlägt man diesen Weg erst ein, wenn man weiß, um was für eine Erkenntnisart es sich dabei handelt.
Die in «Wahrheit und Wissenschaft» aufgestellte Erkenntnis ist voraussetzungslos. Dass dies kein Novum war, sondern auf der erkenntnistheoretischen Agenda stand, davon zeugen mehrere Versuche damaliger Philosophen, am prägnantesten wohl diejenigen Johannes Rehmkes und Edmund Husserls. Man war sich weitgehend im klaren darüber, dass ein Erkennen im strengen Sinne keines ist, wenn ihm Voraussetzungen zugrunde liegen, die selbst nicht aus dem Erkennen stammen. Es konnte nur eine Grundlagenkrisis der abendländischen Philosophie resultieren, nachdem sich diese der Kette ihrer Voraussetzungen – theologischer, wie weiland, oder naturwissenschaftlicher, wie später, oder gar kunterbunter, wie aktuell – bewusst geworden war. Im ausgehenden 19. Jahrhundert spitzte sich die Krisis aufs äußerste zu. Zur Frage (als Dilemma) stand die Zukunft der Philosophie: Entweder würde sie von ihren Voraussetzungen loskommen und frei und souverän sein. Oder sie würde sich in ihrem eigenen Netz verstricken und Erkenntniswege gegen Holzwege austauschen.
Die in «Wahrheit und Wissenschaft» (Kap. 4) gewonnene Voraussetzungslosigkeit ist zwar theoretisch einwandfrei, sie wird aber keineswegs nur begrifflich und spekulativ zur Geltung gebracht. Hier wäre wohl der tiefere Grund des Scheiterns der Versuche von Rehmke oder Husserl zu sehen, die dieser philosophisch gänzlich neuen Aufgabe mit traditionellen Mitteln beikommen zu können glaubten. Husserls Radikalismus der Suche nach dem Ursprung, so resolut er sich auch ausnimmt, wird alsbald hinfällig, da die von ihm geforderte Radix nicht über den infertilen Boden cartesianischer Rationalität hinauswächst. In ihren Bemühungen, die Voraussetzungen weg-zubekommen, beschrieben die Philosophen einen Kreis und kamen von der anderen Seite zu den Voraussetzungen zurück. Das letzte Wort schien dem bissigen Leonard Nelson und seiner Rede von der Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie zu gehören. Der Grund lag auf der Hand. Erkenntnistheorie sei unmöglich, weil es keine Erkenntnis gebe. Mit anderen Worten: Was man Erkenntnis nennt, entpuppt sich bei näherer Prüfung als Politik des Geistes, dem vor lauter Satzungen, Setzungen und Sitzungen entgeht, dass es da doch auch noch eine Welt gibt, und dass er ihretwegen und nicht bloß seinetwegen da ist.
Rudolf Steiners voraussetzungslose Erkenntnis bricht in seiner «Philosophie der Freiheit» auf zweifache Art auf. Sie ist Wissenschaft der Freiheit, und sie ist Wirklichkeit der Freiheit. Dieses zweite wäre zweifelsohne ein Kuriosum geblieben, wäre die hier gemeinte Wirklichkeit nur konzipiert (wie etwa der Weltgeist bei Hegel), nicht aber auch verwirklicht worden. Es war Eduard von Hartmann, der den Fall in seinen Randnotizen zur «Philosophie der Freiheit» restlos auseinander genommen hat. Steiners Einstellung qualifiziert Hartmann als Phänomenalismus, der «mit unausweichlicher Konsequenz zum Solipsismus, absoluten Illusionismus und Agnostizismus führt». So nahm es sich aus der Perspektive des Jahres 1894 aus. Zehn Jahre später hat sich herausgestellt, dass dieser angebliche Phänomenalismus nicht zum Solipsismus, absoluten Illusionismus und Agnostizismus, sondern zur Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung führt.
Eine andere, schwer zu fassende Überraschung war – das Christentum. Man weiß, wie stark die Begeisterung des Autors der «Philosophie der Freiheit» für die Antichristen Nietzsche und Stirner war. Man weiß aber auch, welche Bedeutung er in seinem ganzen Werk dem Thema Christus zumaß. Wir stehen hier vor einem beängstigenden Dilemma: Kann man etwas verschmähen und es zugleich bejahen? Als einzig plausible Annahme scheint sich aufzudrängen, Steiner wäre später geworden, was er früher nicht war, nämlich: ein Christ. Diese Deutung ist so abgeschmackt wie absurd. Steiner wird nicht müde zu wiederholen, die Geisteswissenschaft als Quelle des Christus-Impulses beruhe auf der «Philosophie der Freiheit». Unsere geläufige Logik hätte Alarm zu schlagen, angesichts eines Christentums, dessen Bejahung die Begeisterung für Nietzsches «Antichrist» und Stirners «Einzigen» zugrunde liegt. Und so bliebe uns denn nur übrig, entweder auf den Fall wie auf eine Mine zu treten oder schlicht über ihn hinwegzusehen. Letzteres wäre wohl als anthroposophisches Happy end einzustufen. Im Dornacher Vortrag vom 7. Mai 1922 nennt Rudolf Steiner seine «Philosophie der Freiheit» «die christlichste der Philosophien». Fragt sich, wie viele wenige dies als inkompatibel empfinden und – aufschaudern, während die anderen, vielen, gedeihlich auf ihrem Weg voranzugehen wähnen, ohne zu bemerken, dass sie nur auf der Stelle gehen.
In Anbetracht der wenigen ließe sich weiter fragen: Wie kann eine Philosophie als christlich, zudem im Superlativ, bezeichnet werden, wo doch zugleich vom Christus ausgesprochen abschätzig geschwiegen wird? Diese Frage rührt jedoch von einer falschen Optik her. Der Christus der «Philosophie der Freiheit» ist gegenwärtig und Gegenwart. Also nicht mehr unter der Kuratel der arroganten Kirchen, sondern frei und zukunftsreich. Christus als Gegenwart ist die Permanenz des Auferstehungsjahres 33. Sollte dieses Jahr auch als Vergangenheit in Betracht kommen, so nur als Wirkung einer späteren Ursache. Der Christus aufersteht nicht jedes Jahr einmal zu Ostern, um gehörig gefeiert und gleich wieder begraben zu werden. Die Auferstehung ist ununterbrochen da oder sie ist gar nicht. Bequemer, im Sinne eines Verweile doch, du bist so schön -Andenkens ad usum theologorum, kann man es weder als Christ noch als Nichtchrist haben.
Des Christus Gegenwart ist sein Wiedererscheinen im Ätherischen. Es war nach zwei Jahrtausenden des Glaubens damit zu rechnen, dass der christliche Gott einmal auf Besseres setzen würde. Er will jetzt nicht mehr bloß geglaubt, sondern verstanden werden. Offensichtlich liegt der Schlüssel zum Verständnis im Ätherischen. Ätherleib heißt geisteswissenschaftlich auch Lebensleib, Zeitleib, Gedankenleib. Leben deckt sich in ihm nicht mit irgendeinem (biologischen oder mystischen) élan vital, sondern mit – Denken. Auf die Frage: Was ist Leben?, antwortet der Ätherleib: Denken. Die Gedanken, die im physischen Leib (Raumesleib) wie Fliegen im Bernstein sind, summen im Ätherleib wie im Bienenstock. Ort des Geschehens ist das Bewusstsein. Das Wiedererscheinen des Christus im Ätherischen vollzieht sich somit nicht mehr im physischen Raumesleib, wie einmal in Palästina, sondern im Bewusstsein.
Das Einzigartige an diesem Bewusstsein ist, dass es kein Unbewusstes kennt, und zwar deswegen nicht, weil es just in dem Ausmaß ist, in dem es gedacht und erkannt wird. Und dies in einer Zeit, deren «geistige Welt» nur in einer «Philosophie des Unbewussten» hat hindurchhalten können. Hartmanns Reaktion ist beeindruckend. Sein Gott musste sich im Unbewussten beherbergen lassen, nachdem sich im Bewusstsein kein Platz für ihn gefunden hatte. Dass dies wörtlich zu verstehen ist, davon zeugt ein späterer Vortrag Rudolf Steiners (London, 2. Mai 1913), in dem vom «Auslöschen des Christus-Bewusstseins» die Rede ist. Hartmanns Philosophie des Unbewussten ist eine direkte Beschreibung dieses Auslöschens – «nach induktiv-naturwissenschaftlicher Methode». Aus dieser tief empfundenen Tatsache heraus kann Hartmann nicht umhin, Steiners Freiheitsphilosophie als Unphilosophie zu bewerten. Dazu Steiner (Brief an Vincenz Knauer vom 15. November 1893): «Ich stehe in dem denkbar schärfsten Gegensatze zu Ed. von Hartmann.» Entscheidend bei dieser von der deutschen Philosophie überhörten Kontroverse war, dass sie sich keinesfalls theoretisch, nur faktisch lösen ließ. An der folgenden Frage nämlich: Ist ein Bewusstsein de facto möglich, dessen Inbegriff und Inhalt das Hartmannsche Unbewusste wäre?
Summa summarum: Der Unterschied der Voraussetzungslosigkeit Steiners etwa zu derjenigen Husserls ist, dass sie kein bloßer Begriff, sondern eine Fähigkeit ist. Fähigkeit heißt: Mensch. Kein Mensch-als-Begriff wiederum, sondern ein Faktischer. Man sieht dies besonders klar, wenn man den Übergang von der «Philosophie der Freiheit» (1894) zur «Theosophie» (1904) in der kleinen Abhandlung «Der Egoismus in der Philosophie» (1899) erkennt. In diesem formvollendeten Vademecum der abendländischen Philosophiegeschichte wird klar, was sich die Philosophen zu allen Zeiten nicht einmal im Traum haben einfallen lassen, nämlich: dass, was sie lehren und als Ideenwelt jenseits der Dinge vorhanden glauben, ihre Innenwelt, ihre inneren Erlebnisse, die Verkündung ihrer Individualität ist. Die Voraussetzungslosigkeit der Erkenntnis lässt sich auch ins Theosophische übertragen. Dort heißt sie: karmafrei. In der Christologie der Geisteswissenschaft vollzieht sich das Christus-Mysterium in einem karmafreien Körper, den sich die Christus-Wesenheit als Sitz und Bleibe während dreier Jahre gewählt hat. Es war die Leiblichkeit des Menschen Jesus, in dessen «Voraussetzungslosigkeit» (= Befreitsein vom Karma) die Möglichkeit lag, dass der Logos physisch Mensch werden konnte. Dass der Logos Mensch geworden ist, darüber beliebten die (Philo-)Logiker von platonistisch-aristotelischem Schrot und Korn einhellig hinwegzusehen. Offensichtlich war es ihnen lieber, dem Logos in Papierform als in Fleisch und Blut zu begegnen. Auch in der Philosophenwelt hallte das Geschrei der Menge in Kaiphas Hof wider. Meister des Begriffs, nehmen sie sich im Beisein seiner Epiphanie auch heute noch verständnislos aus. «Siehe, euer Haus soll euch wüst gelassen werden».
Gleichwie der Christus eines karmafreien Leibes bedurfte, um physisch erscheinen zu können, so bedarf er auch eines entsprechenden Leibes für sein Wiedererscheinen im Ätherischen. Dieser andere Leib ist ein gekonnter Gedankenleib. Gekonnt heißt: voraussetzungslos. Mit anderen Worten: fähig, die Dinge nicht in der (Karma-)Kette des vormals Gedachten, sondern in ihrer Gegenwart zu denken, sodass «die Wahrheit nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten» («Wahrheit und Wissenschaft», Vorrede). Dieser gekonnte Ätherleib ist morphologisch gleich einem gekonnten Physischen Leib des Jahres 33. Klar und erschöpfend: Rudolf Steiners Erkennen verhält sich im Ätherischen (Gedanklichen) zur Christus-Wesenheit, wie sich der Leib des Jesus zur Christus-Wesenheit im Physischen verhielt.
Im Beobachten und Denken dieses Erkenntnis-Mysteriums des Menschen Rudolf Steiner liegt das Karma unseres Anthroposophischwerdens.
Basel, 8. März 2007
1 Aus: Die Karl Ballmer-Probe, Edition LGC, Siegen / Sancey-le-Grand, 2. Aufl. 2013.
2 «Das Goetheanum» 19 / 2007.